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Zwischen Religionsfreiheit und Integration

Schaffhauser Nachrichten, 31.01.2008 von Erwin Künzi

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Das Obergericht hat sich mit seinem Entscheid zur Dispensation von muslimischen Kindern vom schulischen Schwimmunterricht gegen das Bundesgericht gestellt.

Im Oktober 2006 ersuchte ein in Schaffhausen lebender Moslem aus Tunesien den Stadtschulrat, seine Söhne, die damals die 5. bzw. die 4. Primarklasse besuchten, aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht zu dispensieren. Der Stadtschulrat lehnte das Gesuch ab, der Rekurs, den Rechtsanwalt Gerold Meier als Rechtsvertreter der Familie an den Erziehungsrat richtete, wurde ebenso abgewiesen. Daraufhin gelangte Meier an das Obergericht. Er fügte der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eine Erklärung des Imams der Grossen Moschee von Genf über die Bedeutung des Verbots gemischtgeschlechtlichen Schwimmens bei. Das Obergericht hat mit seinem Urteil vom 14. Dezember 2007, das den SN vorliegt, die Haltung von Stadtschulrat wie Erziehungsrat gestützt und erklärt, dass die Verweigerung der Dispensation rechtens war. Diesen Entscheid machte sich das Gericht nicht leicht: Da es um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung ging, nahm sich das Gesamtgericht unter dem Vorsitz von Obergerichtspräsident David Werner des Falles an.

Veränderte Umstände
Was ist wichtiger, die Religionsfreiheit oder die Schulpflicht und die Anforderungen der Integration? Mit diesen grundlegenden Fragen, die zurzeit immer wieder die Öffentlichkeit beschäftigen, musste sich das Gericht bei seiner Urteilsfindung befassen. Kam dazu, dass das Bundesgericht in einem ähnlichen Fall bereits Stellung bezogen hatte: Anfang der neunziger Jahre sprach es sich für die Dispensation aus, da der Schulbetrieb durch die religiös motivierte Befreiung vom Schwimmunterricht nicht gestört werde und die Schwimmfertigkeit für das berufliche Fortkommen nicht so wichtig sei. In der Zwischenzeit hätten sich die Umstände geändert, hielt der Erziehungsrat in seiner Stellungnahme zuhanden des Gerichts fest: Heute seien die Schulklassen kulturell sehr durchmischt, was bei einer grosszügigen Dispensationspraxis zu Problemen im Unterricht führen würde. Zudem habe die Schule heute auch einen Auftrag zur Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit, um der fortschreitenden Tendenz zur kulturellen und wertemässigen Desintegration der Gesellschaft entgegenzuwirken. Eine ganz andere Auffassung vertrat die Familie der Knaben: Ihr Glaube verbiete das gemischtgeschlechtliche Schwimmen vom Eintritt der Pubertät an sowohl für Knaben als auch für Mädchen. Die Religionsfreiheit stehe zudem über den vom Erziehungsrat angeführten Gründen.

Kritik an Bundesgerichtsurteil
In diesem Spannungsfeld der Auffasssungen musste das Obergericht zu seinem Entscheid kommen. Es hielt zuerst einmal fest, dass die Problematik grundsätzlich in die von der Bundesverfassung garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit fällt. Unbestreitbar sei auch, dass bei einer strengen Auslegung des Korans das Verbot des gemischtgeschlechtlichen Schwimmens für Knaben wie für Mädchen gilt. Dann würdigte das Gericht ausführlich das Bundesgerichtsurteil und seine Argumentation, um anschliessend festzustellen, dass dieses Urteil in den letzten Jahren teilweise stark kritisiert wurde, da aber seither das Bundesgericht keinen neuen Fall zu beurteilen hatte, sein Entscheid immer noch gültig sei und die Praxis in den Kantonen bestimme. Von dieser Praxis - nämlich Dispensationsgesuche zu bewilligen - sei der Erziehungsrat in diesem Fall abgewichen. «Es ist deshalb zu prüfen», so das Gericht, «ob die veränderten soziokulturellen Umstände, namentlich die starke Zunahme des muslimischen Bevölkerungsanteils in der Schweiz und Anzeichen von gesellschaftlicher Desintegration und von Intoleranz zwischen religiösen Gruppen, eine Neubeurteilung der Frage der Zulässigkeit des Dispenses» erfordere.

Prüfung durchgeführt
Diese Prüfung führte das Obergericht in der Folge durch. Es verwies zuerst darauf, dass nach Auffasssung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts insbesondere unter dem emanzipatorischen Aspekt neu überdacht werden sollte. Anschliessend befasste sich das Gericht mit der Rechtslage im Kanton Schaffhausen, vor allem mit der Schulpflicht: Grundlage des Unterrichts ist der Lehrplan, und der zählt als obligatorisches Schulfach Sport auf, zu dem auch das Schwimmen gehört. Der Unterricht wird grundsätzlich in geschlechtergemischten Schulklassen erteilt, und Knaben und Mädchen haben ein Anrecht auf die gleiche Ausbildung. Dispensationen sind beim Vorliegen eines ärztlichen Zeugnisses oder «anderer stichhaltiger Gründe» möglich.

Güterabwägung nötig
Da in diesem Fall keine medizinischen Gründe für eine Dispensation geltend gemacht wurden, stellte sich die Frage, ob religöse Gründe stichhaltig sind. Dazu hielt das Gericht fest: «Der Konflikt zwischen der Religionsfreiheit und der Schulpflicht der Beschwerdeführer muss somit im Rahmen dieser Dispensationsregelung gelöst werden.» Dabei sei eine Güterabwägung nötig, da Religionsfreiheit grundsätzlich keinen unbedingten Dispensationsanspruch ergebe. Das Gericht befasste sich auch mit den Koranstellen, aus denen die Eltern der Knaben das Verbot ableiten, und kam dabei zu folgendem Schluss: «Festzuhalten ist jedenfalls, dass das Verbot des gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterrichts nicht zu den zentralen, unter Muslimen allgemein anerkannten Forderungen ihres Glaubens gehört, sondern Ausfluss einer sehr strengen dogmatischen bzw. patriarchalischen Auffassung ist, welche von vielen Muslimen nicht geteilt wird.»

Gleichstellung der Geschlechter
Weiter kam das Gericht zur Feststellung, dass die Bundesverfassung wie die seit 2003 geltende neue Kantonsverfassung die Gleichstellung der Geschlechter wie die Integration der ausländischen Wohnbevölkerung als Aufgabe beinhalten, beides Dinge, die durch den gemeinsamen Schwimmunterricht gefördert werden. Kommt dazu, dass auch das seit Anfang Jahr geltende Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer die Integration der ausländischen Wohnbevölkerung als allgemeinen Grundsatz verankert.

Für Glauben nicht zentral
Nach reiflicher Überlegung kam deshalb das Obergericht zu folgendem Schluss: «Unter diesen Umständen aber spricht eine Güterabwägung unter den heute gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen gegen eine Dispensation muslimischer Schulkinder vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht, da es einerseits nicht um eine zentrale, allgemein anerkannte Forderung des muslimischen Glaubens geht und andrerseits erhebliche und überwiegende Interessen der Geschlechtergleichstellung und der gesellschaftlichen Ausländerintegration an der Durchführung eines nicht geschlechtergetrennten Schwimmunterrichts bestehen.»
In der Folge wies das Obergericht die Verwaltungsbeschwerde ab und gab Stadtschulrat wie Erziehungsrat recht, die die Dispensation verweigert hatten. Wie Rechtsanwalt Gerold Meier angekündigt hat (siehe SN vom 26. Januar), will er diesen Entscheid ans Bundesgericht weiterziehen.

Quelle