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Zwischen Prävention und Überwachung
Schaffhauser Nachrichten, 09.12.2015 von Robin Blanck
Zur Verhinderung von Gewalttaten wollen die Schaffhauser Behörden mehr Kompetenzen – und damit mehr Eingriffsrechte in die Privatsphäre. Entscheiden muss die heikle Frage aber die Politik.
Das Ziel, das Polizeikommandant Kurt Blöchlinger an seinem Sitzungstisch im 1. Stock der «Beckenstube» formuliert, ist einfach: «Ich will einen möglichst grossen Schutz für die Menschen und möglichst viele Opfer vermeiden», sagt er. Und weiss, dass er sich damit auf heikles Terrain begibt – noch heikleres als bisher schon mit der Datenbank für «potenziell gefährliche Menschen», die auf seine Initiative hin geschaffen wurde.
Die erste Weichenstellung bei der Verhinderung von Gewalttaten hat die Schaffhauser Regierung bereits 2011 vorgenommen, als sie die Arbeitsgruppe Krisenmanagement (AGK) eingesetzt hat: Basierend auf dem in der Folge frisch revidierten Polizeigesetz des Kantons hat der Regierungsrat dann im März 2013 die Möglichkeit geschaffen, dass Personen, die «mehrfach auffällig» waren, in einer Datenbank erfasst und von der AGK im Auge behalten werden können.
Doch jetzt will die Gruppe eine Ausweitung des Systems: «Wir sind daran, eine Überarbeitung des Polizeigesetzes vorzubereiten», sagt Blöchlinger, «das Finanzdepartement hat uns vor zwei Monaten einen entsprechenden Auftrag erteilt.» Das Ziel: Nachdem im Rahmen des bisherigen Bedrohungsmanagements primär Personen im Vordergrund standen, die Behörden und/oder deren Mitglieder bedroht haben, soll künftig auch der private Bereich – unter anderem etwa der Bereich rückfallgefährdeter Straftäter oder jener der häuslichen Gewalt – ins Bedrohungsmanagement aufgenommen werden.
Kontrolle bei schlechter Prognose
Das ist ein grosser Schritt, der sich gemäss Blöchlinger aber aufdränge – das zeige nicht zuletzt der Austausch mit anderen Kantonen. Ein Beispiel: Ein Sexualstraftäter hat seine Haftstrafe verbüsst und die Entlassung aus dem Vollzug steht trotz schlechter Prognose und erfolgloser Therapie an. Weil in solchen Fällen die Rückfallquote sehr hoch ist, soll man künftig früher aktiv werden können: «Heute wissen wir noch nicht einmal, wann eine solche Person entlassen wird», schildert Blöchlinger die Ausgangslage. Darf die Polizei künftig über solche Vorgänge informiert werden? Dürfen diese Personen ins Bedrohungsmanagement aufgenommen also verzeichnet werden? Darf die Polizei die Betroffenen nach der Entlassung ansprechen und sie darauf hinweisen, dass eine Form der Beobachtung stattfindet? «Das sind ganz heikle Fragen und die jetzige Fassung des Schaffhauser Polizeigesetzes ist zu wenig detailliert, um ein solches Vorgehen zu rechtfertigen», sagt Blöchlinger.
Kanton Zürich schon weiter
Gesetzliches Neuland will Blöchlinger aber nicht betreten: Im Kanton Zürich wurde das Polizeigesetz bereits in diese Richtung präzisiert, sodass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Stellen möglich ist. Konkret: Der Grundauftrag der Polizei wurde von bisher «Massnahmen zur Verhütung strafbarer Handlungen» erweitert und umfasst nun auch die «Verhinderung und Erkennung von Straftaten». Das heisst: Die Polizei kann Vorermittlungen tätigen, um festzustellen, ob «strafbare Handlungen zu verhindern oder strafbare Handlungen aufzuklären sind» – kann also früher aktiv werden und sich zu diesem Zweck auch mit anderen beteiligten Stellen austauschen. Um Abklärungen zur Gefährlichkeit vornehmen zu können, ist es im Kanton Zürich sogar möglich, Menschen präventiv über mehrere Wochen in Haft zu nehmen – ein Vorgehen, das von der Zürcher Staatsanwaltschaft und den Gerichten bisher geschützt wurde.
Blöchlinger sagt: «Ich hoffe, dass wir hier nachziehen können und dann genau wissen, was erlaubt ist und was nicht.» Die Revision müsste definieren, wer – Polizei, Staatsanwaltschaft oder Psychiatrie – für die präventive Überwachung zuständig ist.
Im Beispiel des Sexualstraftäters hätte die Gesetzesanpassung im Kanton Schaffhausen Folgen: Der entlassene Täter könnte in ein Fallmanagementsystem und ein polizeiliches Vorermittlungsverfahren aufgenommen werden, würde wiederholt angesprochen und begleitet. Denkbar wäre auch, dass er sich in regelmässigen Abständen melden und die Einnahme bestimmter Medikament belegen müsste. «Die Schwelle für solche Massnahmen ist aber hoch anzusetzen», sagt Blöchlinger und meint damit, dass nur bei bestimmten Straftätern eine Begleitung vorgesehen ist.
Der zweite Bereich, der mit den neuen Regeln stärker überwacht werden könnte, sind Fälle häuslicher Gewalt. Heute sei es gemäss Blöchlinger wohl möglich, Rayonverbote zu verhängen oder einen Mann mit einem Verbot zu belegen, die gemeinsame Wohnung während zehn Tagen zu betreten. Aber das reicht laut Blöchlinger nicht: Fast die Hälfte aller Tötungsdelikte im Land ereigneten sich in einer Situation häuslicher Gewalt, «zwar treten die Täter im Vorfeld an verschiedenen Stellen auffällig in Erscheinung, aber weil ein Austausch der Informationen mit dem heutigen Gesetz nicht erlaubt ist, erkennt man meist erst zu spät, dass eine Situation zu eskalieren droht». In diesem Bereich würde künftig eine Vernetzung und Beurteilung durch Ärzte, Psychologen und weitere Beteiligte erfolgen. Dann könnte eine Entschärfung angestrebt werden, in der die Polizei nur ein mögliches Element wäre.
«Alles verhindern lässt sich auch damit nicht, aber wenn wir vor einem Ereignis aktiv werden wollen, dann müssen wir wissen, wann eine Situation sich zuspitzt», sagt Blöchlinger, «sonst sind wir wieder zu spät und können nur noch Tote und Verletzte zählen.»
Bis das Gesetz so weit ist, dauert es aber noch, die Anpassungen sollen erst in die auf 2017 geplante Teilrevision des Polizeigesetzes einfliessen. Und: «Ob man eine solche Ausweitung des Systems will oder nicht, muss am Ende die Politik entscheiden», sagt Blöchlinger, «mir ist wichtig, dass die Idee hinter der Revision transparent ist.»
Ein Jahr nach der Einführung des neuen Systems waren acht Personen aus dem Kanton Schaffhausen in der Datenbank verzeichnet, inzwischen stehen zehn Männer unter erhöhter Beobachtung durch die AGK, die inzwischen in AG Bedrohungsmanagement umbenannt wurde. Seit der Einführung ist viel passiert: Eine neue Broschüre zum Thema wurde erarbeitet und an Behörden im Kanton und an die Gemeinden verteilt, die gesamte AG Bedrohungsmanagement (siehe Kasten) wurde vom Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement im Umgang mit der Software Dyrias geschult, die es ermöglichen soll, Risikoeinschätzungen vorzunehmen. Darüber hinaus treffen sich Vertreter verschiedener Kantone und tauschen ihre Erfahrungen und die sinnvollsten Vorgehensweisen im Bedrohungsmanagement unter einander aus.
Blöchlingers bisherige Bilanz zu den in der Datenbank eingetragenen Personen fällt klar positiv aus: Aufgrund des Bedrohungsmanagements seien – zusammen mit der Staatsanwaltschaft – verschiedene Massnahmen ausgesprochen worden. Oft stand im Vordergrund, eine drohende Person aus der Anonymität zu holen, aber auch psychiatrische Begutachtungen oder Zwangsmedikation wurden angeordnet. «Wer auf dem Radar erscheint, reagiert in der Regel anders, weil er weiss, dass er Gefahr läuft, eine Grenze zu überschreiten», sagt Blöchlinger. Bisher wurde auch von keiner der betroffenen Personen die Streichung aus der Datenbank beantragt.
Erst vor wenigen Monaten wurde das System vom kantonalen Datenschutzbeauftragten Christoph Storrer untersucht. Er kommt zum Schluss, dass das bisher eingesetzte Verfahren verhältnismässig ist, gleichwohl würde er sich eine Verfeinerung der gesetzlichen Grundlagen wünschen, sodass die einzelnen Schritte – etwa die Kriterien für eine Aufnahme, der Verbleib und die Löschung aus der Datenbank – auf Gesetzesstufe verankert würden.
Drei- bis viermal tritt die Kerngruppe pro Jahr zusammen, um schnelle Beurteilung vorzunehmen. Einen Fall, in dem man nachweislich eine Gewalttat durch eine Intervention verhindert hat, kann die Gruppe nicht vorweisen: «Wenn wir gut arbeiten, dann passiert nichts – genau das macht es schwierig, die Notwendigkeit solcher Vorkehrungen zu belegen.»
«Das sind heikle Fragen, und die jetzige Fassung des Polizeigesetzes ist zu wenig detailliert, um ein solches Vorgehen zu rechtfertigen.»
Nachgefragt
«Schwelle wird nicht heruntergesetzt»
deshalb auch federführend beim Bedrohungsmanagement.
Ist eine Ausweitung des Bedrohungsmanagements notwendig?
Rosmarie Widmer Gysel: Ja, denn jedes zweite Tötungsdelikt in der Schweiz findet im Bereich der häuslichen Gewalt statt. Man darf somit die Bereiche «Drohungen gegen Behörden/Behördenmitglieder» und die Thematik «Häusliche Gewalt» nicht trennen, sondern sie sind gesamtheitlich zu betrachten. Es haben alle das Anrecht auf einen bestmöglichen Schutz ihrer persönlichen Integrität. Eine Erweiterung bedeutet im Übrigen nicht, dass die Schwelle der Erfassung von Personen, heruntergesetzt wird, sondern lediglich, dass Personen die schwere Drohungen aussprechen, die nicht gegen Behörden gerichtet sind, auch erfasst und interdisziplinär beurteilt werden können.
Weshalb?
Widmer Gysel: Die Massnahmen und die Beurteilung von solchen Fällen werden, wenn sie bekannt sind, mit den gleichen Instrumenten bearbeitet. Meist sind auch die gleichen Partner betroffen, die mit diesen Fällen zu arbeiten haben. Also macht es Sinn, das Wissen und die Ressourcen optimal zu nutzen. Es geht im Übrigen nicht um polizeiliche Vorermittlungen im klassischen Sinn, sondern darum, dass die Polizei im Auftrag der Arbeitsgruppe solche Fälle mit den vorhandenen Informationen zusammenführen und den Spezialisten zur Beurteilung unterbreiten kann.
Welches sind aus Ihrer Sicht die heikelsten Punkte?
Widmer Gysel: Heikel ist wie immer die Definition der Schwelle, wann eine Person auf den Radar der Spezialisten – Psychiatrie, Staatsanwaltschaft, KESB, Fachstellen, Polizei – kommt. Die Anforderungen werden dann genau geprüft und aufgrund der Erfahrungen aller Kantone sofern nötig angepasst und transparent aufgezeigt. Schlussendlich wird es dann am Parlament liegen zu sagen, wie die interdisziplinäre Zusammenarbeit ausgestaltet werden kann.
Bedrohungsmanagement Mitglieder der AG
Polizeikommandant Kurt Blöchlinger (Vorsitz und Vorsitzender Kerngruppe; Stv.: Stefan Ehrat), Jacqueline Wilson (Leiterin Straf- und Massnahmenvollzug), Vivian R. Biner (Leiter Arbeitsamt), Gemeinderätin Franziska Brenn (Sozialreferentin Neuhausen), Katharina Ent (Bewährungsdienst), Beat Hartmann (Chef Migrationsamt), Arnold Marti (Vizepräsident Obergericht), Roland Moser (Departementssekretär Erziehungsdepartement), Dieter Böhm (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Mitglied Kerngruppe), Stadtrat Simon Stocker, Christine Thommen (Präsidentin Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) und Monika Fankhauser (Staatsanwältin, Mitglied Kerngruppe).