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Weg von der Versicherungslogik

Veränderungen im Sonderschulbereich

schaffhauser az, 01.04.2008 von Elisabeth Hasler

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In der Sonderpädagogik findet ein Paradigmenwechsel statt. Der Rückzug der IV aus der Sonderschulfinanzierung auf Ende 2007 ermöglicht, umfassendere und integrativere Ansätze umzusetzen. Integration statt Separation soll die Devise in Zukunft lauten.

Im Kanton Schaffhausen sind bisher überdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler in Sonderschulen unterrichtet worden. Nun ist ein Ende dieser Separation in Sicht, und Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung sollen in Zukunft vermehrt die Möglichkeit haben, in normale Klassen eingegliedert werden. Neben den vier sonderpädagogischen Kompetenzzentren (Frühbereich, Sprach- und Hörbehinderung, schwere Verhaltensauffälligkeit, geistige und körperliche Behinderung) wird neu eine Koordinationsstelle für integrative Sonderschulung geschaffen, die für alle Kinder mit Behinderungen zuständig ist. Nicht nur für die Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf und ihre Familien ist Integration ein Vorteil. Auch die stärkeren Kinder sollen davon profitieren, da sie lernen, auf die schwächeren Rücksicht zu nehmen.
Erleichtert wird der Wechsel von der Separation zur Integration durch die Umsetzung des neuen Finanzausgleichs (NFA): Da die IV ihre Beteiligung an der Sonderschulfinanzierung auf Ende 2007 aufgegeben hat, fallen auch ihre restriktiven Vorgaben bezüglich Integration weg. Seit vergangenem Dienstag liegt die volle fachliche, rechtliche und finanzielle Verantwortung für die Schulung von Kindern mit besonderem Förderbedarf nun bei den Kantonen. Dank dieser Aufgabenentflechtung kann umgesetzt werden, was das Behindertengleichstellungsgesetz fordert: Gleiche Rechte für alle. Mit der IV entschied bisher nämlich eine Versicherung über das Wohl der Sonderschülerinnen und -schüler. Nun ist der Kanton für alle Kinder im Schulalter zuständig.

FÖRDERORIENTIERTER ANSATZ
Mit der «Interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik » soll erstmals ein gesamtschweizerischer Rahmen für die Schulung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf geschaffen werden. Das Sonderpädagogik- Konkordat umfasst unter anderem folgende Inhalte:
• Alle sonderpädagogischen Aufgaben werden Teil des Bildungsauftrages. Dadurch wird ein Wechsel von einer Versicherungslogik zu einem förderorientierten Ansatz vollzogen. Bisher wurde das Augenmerk auf die Defizite der Schüler gerichtet, da die IV Versicherungsleistungen zugesprochen hat. Künftig soll die Frage nach der Zusatzunterstützung, die für eine erfolgreiche Schullaufbahn nötig ist, im Zentrum stehen.
• Integrative Massnahmen sollen separativen vorgezogen werden.
• Es sollen eine einheitliche Terminologie, einheitliche Qualitätsvorgaben sowie ein standardisiertes Abklärungsverfahren geschaffen werden.
Der Beitritt zum Sonderpädagogik- Konkordat ist für Schaffhausen als kleinen Kanton wichtig, wie Rita Hauser, Leiterin der Fachstelle Sonderpädagogik, erklärt. So werde gewährleistet, dass alle Kinder, unabhängig vom Wohnort, das bekommen, was sie brauchen. Die neu erarbeiteten «Richtlinien für den Sonderpädagogischen Bereich» in unserem Kanton schaffen die Voraussetzung zu einem allfälligen Beitritt. Bis zum Inkrafttreten des Konkordats im Jahr 2011 gilt eine Übergangsfrist, in der das von der IV festgelegte Angebot gewährleistet bleibt.

JEDES KIND EIN EINZELFALL
Sichtbare Veränderungen, wie die Schliessung von Sonderschulklassen, werden zunächst also nicht erwartet. Ein Umdenken findet aber auf jeden Fall statt: «Weg von der Abklärung zur Unterstützung - das ist ein grosser Unterschied!», weiss Rita Hauser. «Ressourcenorientierte Ansätze und die Idee verschiedener Lernwege und individueller Lernziele müssen sich erst noch etablieren», ist sie sich bewusst. Der integrative Ansatz betrachtet jedes Kind als individuellen Einzelfall. Ein Denken in klar umrissenen Kategorien, wie das im System der IV der Fall war, ist dann weder sinnvoll noch möglich. Um die Versicherungsleistungen zu bestimmen, wurden die Schüler bisher abgeklärt und eingestuft: Als Sonderschüler galten Kinder mit einer geistigen Behinderung, d.h. mit einem IQ von 75 oder darunter (der Durchschnitt liegt bei 100). Ferner wurde zwischen praktischbildungsfähigen und schulbildungsfähigen Sonderschülerinnen und -schülern unterschieden. Diese Separation in der Separation ist mit ein Grund dafür, dass es im Kanton Schaffhausen überdurchschnittlich viele Sonderschüler gibt. Dass sich das Schulangebot nicht mehr nach einer Diagnose richtet, sondern das Kind als Ganzes betrachtet wird, wird nun mit dem Sonderpädagogik- Konkordat und der Schaffung einer Koordinationsstelle möglich. «Das System soll für das Kind da sein, und nicht das Kind für das System», bringt Rita Hauser die neue Philosophie auf den Punkt. Es dürfe nicht sein, dass das Angebot ausschlaggebend für die Zuteilung eines Schülers sei, stellt die Leiterin der Fachstelle Sonderpädagogik fest. Verallgemeinerungen zu machen, sei problematisch, denn was für ein Kind richtig sei, müsse nicht automatisch auch für ein anderes gelten. Statt einer einmaligen Abklärung sollen in Zukunft regelmässige Standortbestimmungen stattfinden.
Revolutionär sind integrative Massnahmen im Sonderschulbereich nicht. Auch unter der IV wurden Sonderschüler vereinzelt in die Regelschule integriert. Von den rund 260 Sonderschülerinnen und -schülern im Kanton gehen heute sechs in die Regelschule an ihrem Wohnort. Die Option Integration war aber bisher die Ausnahme und stark von der Initiative und dem Engagement der Eltern abhängig. Mit dem Sonderpädagogik-Konkordat wird eine Integration grundsätzlich für alle Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf möglich. Integration um jeden Preis wird es in Schaffhausen aber auch in Zukunft nicht geben. Denn Rita Hauser ist überzeugt, «dass der geschützte Rahmen der Sonderschule für bestimmte Kinder nach wie vor das Richtige ist». Schaffhausen wolle bei der Integration tief ansetzen, diese Option also vor allem für Kinder, die neu in den Kindergarten oder in die Schule kommen, prüfen. Für die heutigen Sonderschülerinnen und -schüler wird sich, auch wegen der Übergangsfrist der IV-Leistungen, nicht viel ändern. Im Vergleich zum Kanton Schaffhausen verfahren andere Kantone rigoroser: In Graubünden sollen sämtliche Sonderschulen abgeschafft und alle Kinder integriert werden, und auch der Kanton Zürich plant eine konsequente Eingliederung der Sonderschülerinnen und - schüler.

NEUES BERUFSVERSTÄNDNIS
Völlig unproblematisch dürfte die Umstellung von der Separation zur Integration aber nicht von statten gehen. Vor allem die Regelschullehrer würden aus Angst vor Überforderung Vorbehalte anmelden, meint Rita Hauser. «Bis es läuft, ist die Integration der Sonderschüler eine Mehrbelastung. Wenn es einmal so weit ist, ist es aber oft sogar eine Entlastung für die Lehrer», berichtet Rita Hauser über ihre bisherigen Erfahrungen. Wird integriert, stehen den Lehrern nämlich erfahrene Heilpädagogen zur Seite, die die Kinder während einiger Unterrichtsstunden unterstützen. Die Lehrer realisierten den Vorteil dieses Supports noch zu wenig, findet Rita Hauser: «Schliesslich ist die zweite Lehrkraft ja nicht exklusiv für den integrierten Sonderschüler da, sondern kommt allen zugute.» Eines stehe aber fest: «Die Integration bedingt ein neues Berufsverständnis, in dem Zusammenarbeit ein wichtiger Bestandteil ist.» Gelingt die Kooperation der Lehrkräfte, gelingt auch die Integration der Schüler.