Accesskeys

Unternavigation

Kontakt

Haben Sie Fragen oder Anregungen? Kontaktieren Sie mich!

Das Kind soll Lebensraum erobern dürfen

schaffhauser az, 06.12.2008 von Praxedis Kaspar

az.gif

az Frühförderung, also Förderung von Kindern unter fünf Jahren, ist ein hochaktuelles Thema in der Schweiz und jetzt auch in Schaffhausen. Sie, Helen Zehnder, sind Heilpädagogin und engagieren sich zusammen mit vielen andern Fachpersonen aus den Bereichen Bildung, Gesundheit und Sozialarbeit in der freiwilligen Aufbauarbeit der Netzgruppe Frühförderung Schaffhausen. Erklären Sie uns, worum es geht?
Helen Zehnder Unsere Welt und unsere Familienstrukturen haben sich in den letzten Jahren enorm gewandelt - der Bedarf nach Frühförderung erwächst aus diesen Veränderungen. Alle Kinder sollen die Chance auf ein Umfeld haben, in dem sie sich als Akteure, also als handelnde Personen, erleben können. Sie sollen Erfahrungen und Wissen sammeln und einen Entwicklungsraum zur Verfügung haben. Ein Kind braucht Platz zum Ausprobieren, zum Wässerlen, Sändelen, zum Klettern, Hopsen, Rennen. Ein Kind braucht Lebensraum, in dem es sich frei entwickeln kann.

Eine fast utopische Forderung also ...
Gewiss, wenn man bedenkt, wie Familien heute oft leben müssen: Die meisten haben nur ein oder zwei Kinder, vielen mangelt es an sozialen Kontakten. Und immer stärker fehlt die Möglichkeit, Aussenräume zu erobern. Eine gute Form der bestehenden Frühförderung sind Spielgruppen und Krippen, wo sich zusätzliche Bezugspersonen und Spielkameraden anbieten, die als Gesprächspartner, als Antwortgeber da sind, auch für die Eltern. Aber es müssen zusätzliche Räume geschaffen werden - und zwar für alle sozialen Schichten, denn die Menschen lernen alle voneinander, sie alle brauchen die Chance auf Auseinandersetzung und Integration. Spielgruppen und geeignete Spielplätze braucht es in allen Quartieren, besonders aber an den sozialen Brennpunkten.

Nach Basel und Bern, die bereits konkrete Projekte haben, nimmt sich nun auch Schaffhausen des Themas an. Es fand vor kurzem unter der Federführung der kantonalen Fachstelle Integres eine äusserst gut besuchte Tagung statt, an der Interessierte aus den Bereichen Bildung, Gesundheit und Sozialwesen teilnahmen. Hat man dabei konkrete Ziele formuliert?
Wir haben die Tagungsresultate ausgewertet und entschieden, wie wir weitermachen wollen: Die kompetente Unterstützung von Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel und Stadtrat Thomas Feuer hat uns geradezu zum Weiterarbeiten beflügelt. Die politischen Entscheidungsträger brauchen wir also nicht mehr zu bekehren, das hilft uns unglaublich und freut uns sehr. An der grossen Netzgruppensitzung nach der Tagung haben wir uns Etappenziele gesetzt: Wir werden Grundlagen für ein Gesamtkonzept zur Frühförderung erarbeiten, damit der Kanton sich darauf stützen kann. So, wie wir Konzepte für Alter, Gesundheit, Tourismus und Wirtschaft haben, brauchen wir ein Konzept für die Frühförderung, durchaus zum Nutzen der ganzen Gesellschaft. Denn nicht nur für Kinder und Eltern ist das Thema wichtig, sondern für uns alle: Wo Frühförderung gezielt und professionell geschieht, spart man öffentliche Ausgaben, weil es weniger Klassenrepetitionen, weniger Schulabbrüche, weniger sonderschulische Massnahmen und letztlich weniger Frustration und Jugendgewalt durch bessere Integration gibt. Aber: Das Geld muss am Anfang des Lebens investiert werden, nicht dort, wo das Unheil schon geschehen ist. Sonst ist guter Rat im Sinne des Wortes teuer. Wir liefern also die Grundlagen - der Kanton wird, immer in Zusammenarbeit mit der Stadt, frei sein, das Konzept in Auftrag zu geben oder durch seine Fachpersonen selber erarbeiten zu lassen. Früherziehung hat mit Bildung und mit dem Sozialbereich zu tun, darum engagieren sich Bildungsdirektorin Rosmarie Widmer Gysel und der städtische Sozialreferent Thomas Feurer. Darüber hinaus müssen sich alle beteiligten Fachstellen vernetzen, was derzeit in einem spannenden Prozess passiert. Für sämtliche Aktivitäten der vernetzten Fachstellen und Gruppen bietet Integres Support an, auch dafür sind wir dankbar.

Wie geht die Arbeit konkret vor sich?
Wir haben drei Arbeitsgruppen gebildet. Die logopädische Arbeitsgruppe erarbeitet Grundlagen für eine kindgerechte Sprachförderung. Dabei muss sie die Welt nicht neu erfinden, sie orientiert sich auch an den bereits fortgeschrittenen Projekten in Bern und Basel. Die strategische Arbeitsgruppe setzt sich die Information der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger zum Ziel. Die dritte Arbeitsgruppe ist die Praxisgruppe. Sie ist bereits tätig geworden: Im Hauental und im Unterdorf Neuhausen, wo es bis jetzt nichts gab, hat sie zwei «Mitenand-Spielgruppen» eingerichtet. Das Projekt wird von Bund, Kanton und Stadt wesentlich mitfinanziert, trotzdem ist es mit einem Elternbeitrag von zehn Franken pro Vormittag und Kind für manche Familien noch zu teuer.

An der Tagung wurde festgestellt, dass auch in Schaffhausen immer häufiger Kinder mit Entwicklungsdefiziten in den Kindergarten kommen: ungenügende Sprachkenntnisse, fehlende motorische und kognitive Fähigkeiten, mangelnde soziale Kompetenzen. Was steckt hinter dieser Entwicklung?
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: «Es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind grosszuziehen.» Davon sind wir heute weit entfernt. Kein Milchmann, kein Schuhmacher, kein Beck ... einfach kein Werkstattgucken mehr. Viele Eltern sind verunsichert und überfordert. Es fehlt das Lernen beim Zuschauen, beim «Fröglen», beim Geschichtenerzählen. Es fehlen die alten Leute im Dorfbild, die selbstverständlichen Nachbarschaftsstrukturen. Bevor wir aber in Nostalgie versinken: Wir müssen dieses Dorf für heutige Bedürfnisse nachbauen. Genau das haben wir mit Frühförderung im Sinn.

Sie betonen, dass Frühförderung allen zugute kommen soll. Wie meinen Sie das?
Finanziell gut gestellte Familien können den gesellschaftlichen Wandel besser auffangen, sie sind in der Lage, ergänzende Strukturen einzukaufen: Spielgruppe, Krippe, musikalische Früherziehung, Waldkindergarten ... Bildungsferne, sozial schwache Familien können sich all das nicht leis-ten. Wissen Sie, in meinem Beruf erlebe ich nur Eltern, die das Beste für ihr Kind wollen. Aber es gibt Schwellen, oft finden Angebot und Familie nicht zusammen, oder es fehlt schlicht an den finanziellen Mitteln, sich die nötige Unterstützung einzukaufen.
Viele der beschriebenen Kinder sind Migrantenkinder, die auch ihre Erstsprache nicht gut beherrschen, deren Eltern und vor allem Mütter schlecht integriert sind. Wie will man an diese Familien herankommen?
Wenn die Eltern in ihrem Quartier, also vor ihrer Haustür, niederschwellige Strukturen vorfinden, dann kommen sie und machen mit. Diese Erfahrung macht man in der Quartierarbeit. Auch die neuen Spielgruppen sind ja aufgrund der Nachfrage von Eltern entstanden. Wir möchten ausserdem, dass Frühförderung auch Hausbesuche beinhalten soll, als Ergänzung zur professionellen Familienberatung macht man gute Erfahrungen mit Laienfrauen der gleichen Sprachgruppe, die dafür ausgebildet werden. Dabei geht es nicht um Kontrolle, sondern um Bereicherung, Anregung und Förderung der Sprachkompetenz in der Erstsprache, die ja den Boden bereitet zum Erlernen der Landessprache. Je besser die Menschen in der Kultur ihrer Herkunft beheimatet sind, desto leichter finden sie sich in der Sprache und Lebensweise ihrer neuen Heimat zurecht. Dass auch einheimische Kinder von der Begegnung mit Kindern aus andern Kulturen profitieren, ist eine positive Begleiterscheinung in Krippen und Spielgruppen. Alles in allem: Es geht um die Vernetzung des Vorhandenen, um Information und Bewusstseinsbildung und auch um die Einrichtung neuer Strukturen.